AKTUELLES

25. Mai 2019 Mitgliederversammlung und Kessler-Dinner

17:30 Mitgliederversammlung in der Weinstube Habel, Luisenstr. 19, 10117 Berlin

19:00 Uhr Kessler-Dinner zum 151. Geburtstag Harry Graf Kesslers

(c) Maria Pelzer

Virtuosen mit Foxtrotts und Schlagern der 30er Jahre: Ute Beckert und Maxim Shagaev (c) Sabine Carbon

(c) Sabine Carbon

Sehr  geehrte liebe Freunde, Gäste, Kessler-Afficionados und solche, die es vielleicht noch werden wollen. Ich begrüße Sie ganz herzlich zum jährlichen Dinner, anlässlich des 151. Geburtstages von Harry Graf Kessler.

Morgen ist die Europawahl und ein großes Friedensprojekt steht – zwar nicht zur Disposition- aber an einem schwierigen Punkt, ein Projekt, das in seinen Anfängen auch von Harry Graf Kessler mit auf den Weg gebracht wurde und das ihm außerordentlich wichtig war.

Trotzdem haben wir uns für die Menükarten ein ganz anderes Bild ausgesucht: einen Dackel, Kesslers Dackel, der auch noch Biederle hieß, also so etwas wie „kleiner Biedermann“. Er wirkt gut genährt und trägt ein hübsches Halsband. Es gibt ein anderes Bild, auf dem Kessler sogar seine beiden Dackel fotografieren ließ. Das wirkt vielleicht auf den ersten Blick etwas seltsam. Aber die Botschaft ist: Auch große Männer haben kleine Schwächen, die Wirklichkeit ist nicht immer groß und pathetisch, sondern sie besteht aus Details, Grauzonen, Frivolem und scheinbar Nebensächlichem, das für Menschen aber eine Bedeutung besitzt. Wie z.B. Biederle. Das Bild ist von 1936, als sich Europa bereits dicht am Abgrund befand und Kessler in der Emigration und ein Jahr vor seinem Tod.

In dieser Zeit schreibt er an seiner Autobiographie, von der nur noch der erste Band fertig und gedruckt wurde. Es ist interessant, wie Kessler im Rückblick die Gefährdung Europas als Idee durch den aufkommenden Nationalismus schon in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts verortet und analysiert.

Zitat:

Um das Ende der siebziger und in Anfang der achtziger Jahre trat ein Wetterumschlag in Europa ein. Das hochkapitalistische und hypernationalistische Zeitalter brach an, das unmerklich in das des merkantilen Imperialismus überging. Der Berliner Kongress 1878 enttäuschte Russland, das sich Frankreich näherte, Deutschland verbündete sich mit Österreich. In Frankreich kam der Gedanke der Revanche auf. Die Pariser Weltausstellung 1878 war ein Welt Triumph. 1880 gründeten französische Chauvinisten die Patriotenliga. Zum ersten Mal drang der Nationalismus, Von unten aus dem Mittelstand, der ihn in der französischen Revolution als Sturmbock gegen Könige und Aristokraten erfunden hatte, trennend und verbittert ein in die bis dahin kosmopolitische europäische Gesellschaft, die als Vertrustung der Aristokratie mit den Geldmächten wie eine Art geheime Dachorganisation Europa trotz der erstarkenden Zentrifugalkräfte bis nach dem Kriege 70 noch zusammenhielt. Es begann das Auseinanderbrechen der europäischen Oberschicht das dem endgültigen Auseinanderbrechen Europas präludierte. In der Pariser Gesellschaft ereigneten sich ähnliche Zwischenfälle wie 40 Jahre später nach dem Weltkrieg: Karten wurden nicht erwidert, Einladungen in bisher weit offene Häuser blieben aus. Bedrohlich wuchs die Zahl der Nadelstiche und Dolchstöße…. Ein Blick, ein Wort, die ungewohnte Kühle im Ton einer Stimme, die leichte Senkung oder Hebungen eines Fächers auf einem Empfang, einem Botschaftsdiner, einem Ball, wie Blätter, die in der Luft wirbelnd Richtung und Stärke eines aufkommenden Windes anzeigen, schwache Vorboten des über Europa heraufziehenden Gewitters….

Kessler war zu dieser Zeit noch ein Kind, wenn auch ein genau registrierendes, beobachtendes und Tagebuch schreibendes Kind. Er stützt sich in diesen Zeilen vor allem auch auf die Aufzeichnungen seiner Mutter. Trotzdem finde ich die Beschreibung einer fast unmerklich heraufziehenden Veränderung in den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen bemerkenswert.

Sieht man sich seine Tagebuchaufzeichnungen zu Europa um 1919 an, so ist Europa hier vor allem ein wertvoller bedrohter Schatz,

10 Januar 1920. Sonnabend. Berlin.

Heute ist der Friede in Paris ratifiziert worden; der Krieg zu Ende. Eine furchtbare Zeit beginnt für Europa, eine Vorgewitter Schwüle, die in einer wahrscheinlich noch furchtbareren Explosion als der Weltkrieg enden wird. Bei uns sind alle Anzeichen für ein fortgesetztes Anwachsen des Nationalismus

Europa, ein Begriff, den alle im Mund führen, um den alle kämpfen, aber keiner weiß so richtig wie, und für jeden bedeutet er etwas anderes.

Die Frage wird gestellt, ob Rußland überhaupt zu Europa gehöre, ob nun Frankreich als Plattform der USA eine europäische Führungsposition anstrebe. Kessler entwickelt 1917 – 18  im Auftrag des AA gemeinsam mit George Grosz einen Animationsfilm, der „Sammy in Europe“ heißt, Graf Keysserling äußert den Gedanken, dass nur die geistige Elite Europa retten könne, van de Velde setzt mit Kessler auf die Vielfältigkeit der Kultur zur Rettung Europas und Kessler hofft auf ein „neues Europa“, das in einer Erneuerung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des 1. Weltkrieges wurzelt.  Aber es gibt auch  ganz krude Gedanken wie diesen:

4 Sept. 1919. Donnerstag. Berlin.

Simon Guttmann bei mir wegen seines orientalischen „Zentralrates“. Er will mit Goldberg zusammen unseren Verkehr mit dem Orient auf eine neue, psychologische Grundlage stellen, die durch Untersuchungen geschaffen werden soll. Meint, die Zukunft oder der Untergang Europas hänge davon ab. Alle weissen Nationen seien von einem Kollektiv-Wahnsinn befallen, der sie durch innere Spaltungen und äussere Abschneidung von den orientalischen Rohstoffländern dem sicheren Untergange zutreibe. Ausserhalb dieses Kreises von Irrsinnigen organisiere sich eine neue Welt, deren Zentren Tibet und Mecca seien. Diese würden eines schönen Tages einen Wall um Europa aufrichten und es aushungern genau wie die Entente Deutschland ausgehungert habe.

Europa hat 1919 auch deswegen Konjunktur, weil sich erstmals die USA in einen europäischen Krieg eingemischt hatten und dem gefühlten europäischen Zentrum deutliche Konkurrenz machen. Ähnlich wie China heute.

Europa ist von Anfang an, das zeigen Kesslers Aufzeichnungen, ein schwieriges und daher faszinierendes Gebilde aus ganz unterschiedlichen Mentalitäten. Aber, so finde ich, es wäre sinnvoll, wenn es sich nicht in Abgrenzung zu anderen definieren würde, sondern aus sich selbst heraus, aus dem Bewusstsein für seine Vielfältigkeit, der schrecklichen Erfahrung zweier fürchterlicher Kriege und der Tatsache, dass es immer noch das größte Friedensprojekt der Welt ist. Kessler hat das nach Überwindung seines eigenen Kriegsnationalismus gespürt. Sein großes Projekt während der Weimarer Republik ist genau das: Das Friedensprojekt Europa.

(Rede Sabine Carbon, Vorsitzende der Kessler-Gesellschaft)