Harry Graf Kessler – der Mann, der alle kannte
Harry Graf Kessler war der Mann, der alle kannte. Mit Isadora Duncan schlug er sich die Nacht in einer Bar in der Bülowstraße um die Ohren, Josephine Baker tanzte bei ihm zu Hause, Henry van de Velde entwarf seinen Schreibtisch, mit Hugo von Hofmannsthal überwarf er sich wegen des ´Rosenkavaliers´, mit Aristide Maillol reiste er nach Griechenland. Er kümmerte sich um den sterbenden Nietzsche und schrieb eine Biografie über Walther Rathenau. Für wen, wenn nicht ihn, den „Gesellschaftskünstler“ muss man eine Gesellschaft gründen? Sein Werk war immateriell, ein gesellschaftliches Netz, an dem er ständig knüpfte und in dem radikale linke Künstler genauso hängen blieben wie Außenminister, Prinzessinnen oder Coco Chanel. Er stellte Beziehungen her, entwarf großartige Projekte. Traumwandlerisch sicher bewegte er sich auf den unterschiedlichsten Parketts, zwischen hartem politischen Diskurs und gesellschaftlichem Geplänkel, bei unzähligen Frühstücken, Empfängen, Diners, Soireen. Die Gesellschaft als ein sich im 20. Jahrhundert diversifizierender Raum war das Material für sein Lebenswerk, dieses Netzwerk von Beziehungen, das er in seinen Tagebüchern zum großen Panorama seiner Zeit entwickelte. Die Tagebücher, 10.000 Seiten mit 40.000 Personen, die sie bevölkern, sollten nur Vorstufe sein, Steinbruch für die große Biographie, die noch kommen sollte, die im mallorquinischen Exil der 30er Jahre aber unvollendet blieb. Dabei sind gerade diese Tagebücher ein Schatz der genauen Beobachtungen, filigranen Beschreibungen und Reflexionen.
Die Selbstreflexion, das Bespiegeln der eigenen Person, findet kaum statt. Der Mann, der uns auf dem Gemälde von Edvard Munch in der Berliner Nationalgalerie wie der Inbegriff des (eitlen) Dandys entgegen kommt, tritt in den Tagebüchern meist hinter das Geschehen, die Schönheit der Kathedralen, die Lust am Erleben großer künstlerischer Talente, den Sog der Politik, zurück. Kessler steckte voller scheinbarer Widersprüche, die politischen und kulturellen Brüche, Verwerfungen, Paradigmenwechsel des angehenden 20. Jahrhunderts kristallisieren sich in seiner Person. So wird aus dem wertkonservativen, elitären, in der Salonkultur des 19. Jahrhunderts verwurzelten Grafen nach 1918 der „rote Graf“. Die Erfahrungen des ersten Weltkrieges lassen seinen Glauben an Monarchie, Eroberung und militärische Lösungen implodieren. Noch im Alter von 50 Jahren ist er fähig zur radikalen Änderung seiner Weltsicht, ohne jemals radikal zu werden – im Gegenteil. Sein Blick auf die Welt suchte nach verbindenden und verbindlichen Lösungen. Diese Leistungen, sein kosmopolitisches, auf Kunstförderung und Völkerverständigung gerichtetes Denken und Handeln zu würdigen, bekannt zu machen und die Kommunikation in diesem Sinne fortzuführen, hat sich die Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft zum Ziel gesetzt. Wir wünschen uns Mitglieder, die sich in dieser Fülle grenzüberschreitender Kommunikation zu Hause fühlen.

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