4. Dezember 2018: Besuch der Ausstellung über Otto Müller im Hamburger Bahnhof
In den 20er Jahren wurde Breslau als eine Nachbarmetropole Berlins empfunden. Heute liegt es gefühlt viel weiter weg. Erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs öffnet sich der Blick langsam wieder auf die vielfältigen Verbindungen nach Osteuropa und immer noch kann vieles (wieder)entdeckt werden: Breslau, eine Metropole, in der sich Ost- und Westeuropäisches Erbe verbanden und die eine künstlerische Moderne hervorbrachte, die zwar in enger Verbindung und Wechselwirkung mit Berlin stand, die aber auch ganz eigene Qualitäten und Denkweisen hervorbrachte. Im Zentrum: der langjährige Leiter der Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau, Otto Müller, Schlüsselfigur der Moderne, charimatisch, geheimnisumwittert. Nicht allein sein berühmter “Zigeunerzyklus” von 1927 wirkt wie eine Infusion fremder Kulturzusammenhänge in die Kunst der Moderne.
Wie bei kaum einem anderen Maler des 20. Jahrhunderts rankt sich um Otto Mueller bis heute ein Mythos: Geheimnisumwittert, erfüllt von Magie und Weisheit soll Mueller gewesen sein – insbesondere Bekenntnisse von Zeitgenossen und Schülern legen hiervon Zeugnis ab.
Carl Hauptmann, mit Mueller eng vertraut, setzte ihm in seiner Künstlerbiographie Einhart der Lächler (1907) ein Denkmal: Einhart Selle nämlich trägt unverkennbar die überlieferten Züge Muellers. Zunächst im Reich der Träume und Fantasie zuhause, dann als Reisender bei „Zigeunern“, später zunehmend als weise werdender Sonderling, wendet sich der Protagonist bei Hauptmann ganz der Kunst zu. Sein rigoroser Rückzug aus der Gesellschaft wird zunächst als ekstatischer Rausch, dann als notwendiger und gelungener Versuch der Selbstverwirklichung beschrieben. Das Prosawerk wurde nicht nur von den Expressionisten gefeiert, sondern es trug entscheidend dazu bei den „Künstler-Mythos“ Muellers zu zementieren. Wie eine beziehungsvolle Erwiderung darauf erscheint Otto Muellers Gemälde Selbstbildnis mit Pentagramm von 1924.
Die Kunstgeschichtsschreibung begegnete Müller oft mit Unverständnis. Seine Darstellungen von nackten Mädchen in der Natur gehören zwar zum Signet der Moderne, durch ihre Ähnlichkeit mit Bildern Ernst Ludwig Kirchners aber, mit dem er gut befreundet war, geriet ihr Maler ins Abseits. Zu Unrecht: Die lehmigen Naturfarben, Leimmalerie auf Rupfen, die die Leinwand oft durchscheinen lassen, verraten ein tiefempfundenes Versändnis der Verbindung von Mensch und Natur, die möglicherweise erst jetzt in vollem Umfang begriffen werden kann.
Muellers unkonventionelle Lehrmethoden und seine Auffassung von Freiheit und Sehnsucht, vermitteln sich nachdrücklich auch im Schaffen seiner Schüler. Einige der Breslauer Studenten, so auch Camaro oder Horst Strempel, zieht es später nach Berlin, wo sie vor allem in der Nachkriegszeit eine künstlerische Hochphase erleben.
Der gebürtige Breslauer Alexander Camaro ist ein signifikantes Beispiel dafür, wie attraktiv Muellers Lehrmethoden, sein persönliches und künstlerisches Selbstverständnis für seine Schüler gewesen sein müssen. Für Camaro wurde Otto Mueller zu einer Identifikationsfigur. Noch 1982 inszenierte sich Camaro zum Selbstporträt vor einer hohen Regalwand in seiner Wohnung in Berlin inmitten von Porträtfotos und ausgewählter Kunst: prominent platziert sind Werke Otto Muellers, historische Fotos der Stadt Breslau, eine Puppe in schlesischer Volkstracht.
Ernst Ludwig Kirchner, Künstlerkollege aus der kurzen gemeinsamen Brücke-Zeit in Berlin, würdigt Muellers Arbeiten posthum als „wirklich freie Kunstwerke und echt, weil sie auf dem Boden seiner Weltanschauung frei und rein erwachsen sind“.
Ivo Hauptmann, Sohn des Schriftstellers Gerhart Hauptmann und verwandt mit Mueller, betont nach einem Besuch der Akademie in Breslau, dieser Lehrer habe seine Schüler konsequent weg vom konventionell Akademischen hin „zur Freiheit“ erziehen wollen. Dieser offensichtlich von Otto Mueller auch gelebte und postulierte Freiheitsgedanke entspricht in der Hauptsache dem Naturell seiner Studenten und befeuerte ihr Arbeiten.
Mit Otto Mueller, der als Brücke-Maler begann, mit Oskar Moll, dem Hauptbegründer der Académie Matisse mit hervorragenden Kontakten nach Paris, Oskar Schlemmer, dem vormaligen Bauhaus-Meister, und ihren Schülern wie Johnny Friedlaender, einem Wegbereiter der Farbradierung, sowie Alexander Camaro, der als Bohemien und Universalkünstler die Berliner Szene beherrschte, stehen zwei Künstlergenerationen der Moderne im Mittelpunkt, die die Achse Berlin-Breslau belebten.
Um 1926 und nur vier Jahre vor seinem Tod entsteht in Breslau Muellers wohl kühnstes Gemälde “Zigeunermadonna” und etwas später seine Zigeuner-Mappe mit neun farbigen Lithographien. Er hatte Spalato und Sarajevo besucht, wie seine Schwester Emmy berichtete, wo er von Zigeunern aufgenommen wurde und unter ihnen lebte wie einer der ihren. Die Bilder bezeichnen nicht nur einen Höhepunkt in Müllers Schaffen, sie sind Ausdruck eines gänzlich unideologischen, vorurteilsfreien Freiheitsstreben, das schon wenige Jahre später politisch verfemt und verfolgt wurde.
Im Jahr 1937 beschlagnahmten die Nationalsozialisten 357 seiner Werke aus deutschen Museen, da seine Bilder als „Entartete Kunst“ galten. 13 von ihnen wurden in der Ausstellung „Entartete Kunst“ diffamiert.
Sabine Carbon