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11.9. Symposion Kessler und Homosexualität

Harry Graf Kessler (1868-1937) war der Mann, der alle kannte, überall dabei und doch ein Außenseiter. Warum?

Kesslers Homo- oder Bi-Sexualität wurde von der Forschung bisher nur wenig beachtet. Ziel des Symposiums ist es, einen neuen Zugang zum Verständnis seines Lebens und Werks zu erschließen, die Lebenswirklichkeit des Protagonisten vor diesem Hintergrund zu rekonstruieren, die Codes der öffentlichen Wahrnehmung und der Selbstwahrnehmung zu entschlüsseln.

Mit Isadora Duncan schlug er sich die Nacht in einer Bar in der Bülowstraße um die Ohren, Josephine Baker tanzte bei ihm zu Hause, Henry van de Velde entwarf seinen Schreibtisch, mit Hugo von Hofmannsthal überwarf er sich wegen des ´Rosenkavaliers´, mit Albert Einstein diskutierte er über Gott und die Welt, mit Aristide Maillol reiste er nach Griechenland. Er kümmerte sich um den sterbenden Nietzsche und schrieb eine Biografie über Walther Rathenau. Sein Werk war immateriell, ein gesellschaftliches Netz, an dem er ständig knüpfte und in dem radikale linke Künstler genauso hängen blieben wie Außenminister, Prinzessinnen oder Coco Chanel. Er stellte Beziehungen her, entwarf großartige Projekte. Traumwandlerisch sicher bewegte er sich auf den unterschiedlichsten Parketts, zwischen hartem politischen Diskurs und gesellschaftlichem Geplänkel, bei unzähligen Frühstücken, Empfängen, Diners, Soireen. Kessler steckte voller Widersprüche, die politischen und kulturellen Brüche, Verwerfungen, Paradigmenwechsel des angehenden 20. Jahrhunderts kristallisieren sich in seiner Person. So wird aus dem wertkonservativen, elitären, in der Salonkultur des 19. Jahrhunderts verwurzelten Grafen nach 1918 der „rote Graf“.

Kaum ein anderes Leben der Weimarer Republik ist so gut dokumentiert wie dieses. Aber so richtig erschließt es sich erst bei genauerer Betrachtung. Kessler war ein kontinuierlicher und fleißiger Tagebuchschreiber, der nicht nur seine Erlebnisse oft spät in der Nacht noch niederschrieb, sondern sie auch in kulturelle und politische Zusammenhänge einordnete. Er schien überall gleichzeitig zu sein, in Berlin, Paris oder London, konnte relativ frei über seine Zeit verfügen, denn er war nicht verheiratet, musste keine Rücksicht auf Familienpläne nehmen. Andererseits stieß er mit seinem unkonventionellen Lebensstil immer wieder auch gegen „gläserne Decken“.

Die Veranstaltung fand statt in der sogenannten Rostlaube der Freien Universität Berlin, ein Gebäude, das viele nach vielen Jahren wieder sahen oder neu entdeckten, eine Denkfabrik mit langen farbig ausgelegten straßenartigen Gängen, Treppen, Plätzen, rational technisch und doch labyrinthisch wie ein Bazar. Den Hörsaal 1b mit seinen 400 Plätzen konnten wir nicht ganz füllen, aber der Abend entwickelte sich zu einer spannenden Reise in Mentalität, Rechtsprechung und Soziologie der Weimarer Republik, wobei Dr. Björn Weigel von den landeseigenen Kulturwerken hierbei unser Reiseleiter war mit einem freien, sehr lebendigen Vortrag. Anschließend führte uns Dr. Tilman Krause, die Edelfeder des Welt-Feuilletons in die komplizierten Gefühlswelten Harry Graf Kesslers, der seine Homosexualität so weit sublimierte, dass sie vor allem zu einer geistigen Lebensform wurde. Im Anschluss wurde noch sehr lebendig diskutiert. Die beiden Vorträge werden Ende des Jahres als Band 4 in unserer Schriftenreihe „Lektüren“ erscheinen.

Sabine Carbon

Kessler-Symposion 13.9.2024 FU Berlin
© Sophia Huth

Dr. Björn Weigel bei seinem Vortrag ©Anja Götz

Sabine Carbon, Präsidentin der HGKG ©Anja Götz

Dr. Tilman Krausel bei seinem Vortrag ©Anja Götz

Kessler-Symposion 13.9.2024 FU Berlin
© Sophia Huth