Nachruf Wlodzimierz Borodziej
Wlodzimierz Borodziej zog Menschen in seinen Bann. Seine sorgfältig gesetzten Worte, oft ungewöhnlichen Gedanken und Formulierungen fanden Gehör. Das mag zu einem kleinen Teil auch an seiner Stimme gelegen haben, die selbst einem Theaterschauspieler Ehre gemacht hätte.
Wir konnten Ihn 2018 in Magdeburg und Warschau erleben, als wir gemeinsam mit der Regierungskanzlei von Sachsen-Anhalt, der Deutschen Botschaft, der Friedrich-Naumann-Stiftung und und der Deutsch-Polnischen Gesellschaft an einige bemerkenswerte Tage im November 1918 erinnerten. Kessler hatte damals den Gründer des modernen Polen, Jozef Pilsudski, aus seiner Festungshaft in Magdeburg entlassen und dazu beigetragen, Polen neu zu erschaffen und zwar als Republik.
Wlodzimierz Borodziej, der nicht nur den Vortrag auf der Veranstaltung hielt, sondern auch in unserem Film zu Wort kam, bewertete die historische Situation kühl, aber mit Verve. Ihm gelang diese Kombination aus intellektueller Distanziertheit und emotionaler Anteilnahme spielend. Resultat war eine besondere Form von liebevollem Zynismus, mit der er sich der deutsch-polnischen Geschichte gleichzeitig von verschiedenen Seiten näherte und trotzdem nicht den Überblick verlor.
Er freute sich sehr, als wir ihn in die Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft aufnahmen.
Wenn Sie Wlodzimierz Borodziej noch einmal erleben wollen, können Sie den Film mit ihm über folgenden Link ansehen: https://vimeo.com/294793838
Unser Vorstandsmitglied Prof. Karl-Heinz Paqué, der auch der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist, hat eine sehr schöne treffende Würdigung des großen polnischen Historikers verfasst:
Nachruf
Wlodzimierz Borodziej: Ein großer Historiker
Wlodzimierz Borodziej ist tot. Er starb im Alter von 64 Jahren.
Wlodzimierz Borodziej starb im Alter von 64 Jahren. Für seine Rolle als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland und bei der Aufarbeitung der schwierigen Geschichte beider Länder wurde er vielfach ausgezeichnet. Der polnische Historiker hinterlässt ein grandioses schriftliches Erbe. Er wird als Mensch mit Herz und Verstand sowie als Historiker mit klarer Stimme fehlen, schreibt Karl-Heinz Paqué.
Erst 2018 habe ich Wlodzimierz Borodziej kennengelernt. Und zwar bei einer Reihe von Veranstaltungen, die von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zusammen mit der Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft veranstaltet wurden – beginnend in der Staatskanzlei zu Magdeburg und endend in der Deutschen Botschaft in Warschau.
Es ging dabei um die Erinnerung an ein Ereignis deutsch-polnischer Geschichte vom 8. November 1918: die Überführung von Marshall Jósef Pilsudski aus der Festungshaft in Magdeburg nach Berlin und dann Warschau, übernommen von Harry Graf Kessler, dem liberalen Intellektuellen und gerühmten Tagebuchautor, der Pilsudski aus dem Ersten Weltkrieg kannte. Pilsudski wurde nach dem Wiederentstehen der polnischen Republik Staatspräsident, Kessler für einen Monat deutscher Gesandter in Warschau, bis die diplomatischen Beziehungen im Dezember 1918 abgebrochen wurden. Die Befreiung Pilsudskis und dessen gemeinsame Fahrt mit Kessler nach Berlin ist in Polen Teil des Geschichtsunterrichts. In Deutschland ist sie kaum bekannt, auch wenn sie in Kesslers Tagebüchern genauestens festgehalten und brillant beschrieben wurde.
Über dieses Ereignis gibt es einen Film, den die Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft zu dessen 100. Jahrestag öffentlich vorstellte, unterstützt von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (und anderen). In diesem Film kommt der Historiker Wlodzimierz Borodziej ausführlich zu Wort. Mit ruhiger sonorer Stimme analysiert er in perfektem Deutsch die Ausgangslage, den Verlauf und die Folgen der Befreiung von Pilsudski sowie dessen merkwürdigen Charakter – souverän in der Darstellung und mit kühler Bewertung des damaligen polnisch-deutschen Verhältnisses, die er sogar mit einer Prise ironischem Humor anreichert, trotz des tiefen Ernstes der Ereignisse. Es ist ganz und gar der Gestus eines Historikers, der sich um die objektive Wahrheit der Geschichte bemüht – ohne Rücksicht auf diplomatische Befindlichkeiten, gleichgültig auf welcher Seite.
Ganz ähnlich war es bei den öffentlichen Präsentationen des Filmes mit anschließender Podiumsdiskussion in Magdeburg und Warschau. Hier sprach jemand, der sich sein Leben lang mit Polen und Deutschland beschäftigt hat – mit den Abgründen der schwierigen gemeinsamen Geschichte, aber auch mit den offenen Versuchen, sie aufzuarbeiten und zu durchleuchten. Diese Mittlerrolle war ihm auf den Leib geschrieben. Dafür erhielt er hohe Auszeichnungen und trug über Jahre große Verantwortung als einer der Leiter des Imre Kertész Kollegs an der Universität Jena (und später deren Ehrendoktor), als Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie in weiteren wichtigen akademischen Funktionen.
Er hinterlässt ein grandioses schriftliches Erbe, allen voran das Standardwerk „Geschichte Polens im 20. Jahrhundert“, das 2010 auf Deutsch bei C. H. Beck erschien. Auch in diesem Buch überzeugt jene ehrliche Suche des Historikers nach einer objektiven Bewertung der sorgfältig aufgearbeiteten Fakten, und dies ohne Rücksicht auf Mythen, auch wenn sie in der eigenen Nation verbreitet sind. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Wlodzimierz Borodziej Zielscheibe von Angriffen der politischen Rechten in Polen wurde: Der Historikerkollege Bogdan Musial warf ihm 2008 in einem Beitrag für die Zeitschrift Rzeczpospolita vor, von der – unstrittigen – Tätigkeit seines Vaters für den Staatssicherheitsdienst in kommunistischer Zeit für seine eigene wissenschaftliche Laufbahn profitiert zu haben. In einem offenen Brief traten 63 polnische Historiker diesem Vorwurf scharf entgegen – u. a. mit dem Hinweis, die „Gleichsetzung heute agierender Personen mit den Biografien ihrer Familienmitglieder wecke … die schlimmsten Assoziationen“. Deutsche Vertreter aus Wissenschaft und Medien schlossen sich dieser Meinung an.
So wurde ein großer Wissenschaftler, der stets um Objektivität bemüht war, doch noch zu einem Gegenstand der Wirren aktueller Politik. Seiner akademischen Reputation und seinem Ruf als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland kann dies nichts anhaben. Wir werden ihn sehr vermissen – als Mensch mit Herz und Verstand, als Historiker mit klarer Stimme.