AKTUELLES

22.-26. Oktober – Filmpremiere und eine deutsch-polnische Veranstaltungsreihe zu Kessler und Pilsudski 1918

Kessler, der weit gereiste Kosmopolit, begann sich erst während des 1. Weltkrieg für den Osten Europas zu interessieren, nämlich als Soldat an der Ostfront. Und er hätte wohl nie gedacht, dass ihm bei der Neugründung eines unabhängigen republikanischen Polen1918 eine Schlüsselrolle zufallen würde. Aber als Verbindungsoffizier zu den österreichischen Truppen an der Ostfront machte Kessler die Bekanntschaft eines ungewöhnlichen Mannes: Jozef Pilsudski.

Ich lernte Jozef Pilsudski im Oktober 1915 in Wolhynien, in seinem Unterstand bei Kosicze kennen. Die polnischen Legionäre, die übrigens nicht alle Polen waren, sondern auch Deutsche und Ungarn, nur alle blutjung, hatten sich in der Schlacht, die damals um Czartorysk tobte, ausgezeichnet, besonders indem sie einige Tage vorher durch einen Sumpfwald zum Teil barfuß watend mit großer Kühnheit den Stützpunkt der Russen, das Dorf Kukli stürmten. Pilsudski war der Schöpfer und die Seele der Legion. Er und die feierlichen, oft polnischen Volkslieder, die die Legionäre beim Sturm und in Gefahr anstimmten …Er schien etwas müde, früh gealtert, unmilitärisch gebückt, hatte aber merkwürdig schöne tiefe energische, plötzlich wieder weiche und dann auch junge Augen. Das Gesicht, Schnitt und Ausdruck erinnerten an Dostojevski, auch an Nietzsche (Harry Graf Kessler, Tagebuch/Feldpostbriefe)

Pilsudski, der 1918 der erste Staatschef der neuen Republik Polen sein wird, ist in gewisser Weise der Auslöser für Kesslers Wende ins Politische. Nach der ersten eindrucksvollen Begegnung an der Front trifft Kessler Pilsudski in den letzten Kriegstagen 1918 wieder. In der Festung Magdeburg, wo Pilsudski seit 1917 gefangen gehalten wird. Der Grund: Er hat einen Eid auf den deutschen Kaiser verweigert, denn er glaubt nicht mehr daran, dass das Deutsche Reich eine wirkliche Unabhängigkeit Polens jenseits eines Protektorats unterstützen wird. Vielleicht ahnt er aber auch bereits den Zusammenbruch der Mittelmächte und will sich nicht allzu sehr an die künftigen Verlierer binden.

Im Oktober 1918 kurz vor der Kapitulation aber braucht die deutsche Reichsleitung Pilsudski plötzlich wieder. Er soll als Führungsfigur von deutschen Gnaden in Polen installiert werden, nichts zuletzt, weil noch Hunderttausende kriegsmüder deutscher Soldaten an der Ostfront stehen und möglichst friedlich über Polen zurückgeführt werden müssen.

Kessler wird als diplomatischer Spezialist für besondere Aufgaben nach Magdeburg geschickt, um Pilsudski zu befreien. Da Pilsudski aber keine Garantieerklärung unterzeichnen will, gelingt dies erst am 8. November in den ersten Wehen der Revolution von 1918. Die Fahrt von Magdeburg ist ein Abenteuer, das Kessler sehr eindrücklich in seinen Tagebüchern beschreibt, Verkleidung und geplatzte Reifen inklusive. Am 10. November schließlich kommt Pilsudski in Warschau an und Kessler folgt ihm am 20. November als erster Gesandter des revolutionären Arbeiter- und Soldatenrates.

Diese etwas burleske Episode, die in einer schwierigen politischen Konstellation von der respektvollen Kommunikation zweier Männer erzählt, war der Kern einer 4-teiligen Veranstaltungsreihe, die die Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft gemeinsam mit der Deutschen Botschaft in Warschau, dem Generalkonsulat in Krakau, der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit organisierte. Außerdem hatte unser Vorstandsmitglied Prof. Karl-Heinz-Paqué im Herbst 2016 mit einem Spendenaufruf zu seinem Geburtstag 7.000 € als Grundstock einer solchen Veranstaltung in Magdeburg zur Verfügung gestellt.

Finanziert von der Botschaft in Warschau konzipierte ich eine Ausstellung über Harry-Graf-Kessler in 9 Tafeln (Design: ION Design), die in Warschau, Krakau und Breslau gezeigt wurde und wohl noch an anderen Orten gezeigt werden wird. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach unterstützte uns mit Bildern.

Außerdem entstand unser Film „Der Marschall und der Mann von Welt“ (Produktion CO2Film/Felix Oehler, Regie: Sabine Carbon, nach einer Idee von Hans von Brescius, gefördert von: Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Friedrich Naumann-Stiftung für die Freiheit, Lotto GmbH Sachsen-Anhalt, Kloster Bergesche Stiftung)

Als Referenten konnten wir den renommierten Historiker Prof. Wlodzimierz Borodziej und den kalifornischen Historiker, Gründungsmitglied der Kessler-Gesellschaft und Kessler-Biographen Prof. Laird M. Easton gewinnen. Easton sprach über Kesslers Wandlung vom deutschen Nationallisten hin zum liberalen Unterstützer der Republik und Pazifisten. Borodziej hob bei der Bewertung des Verhältnisses zwischen Kessler und Pilsudski die Bedeutung des Zuhörens im politischen Diskurs hervor, wofür er – wohl auch angesichts der derzeitigen europäischen Politik – großen Beifall erhielt. Wir haben ihn noch in Warschau zum neuen Ehrenmitglied ernannt.

Wir freuen uns, dass alle Veranstaltungen aus- oder sogar überbucht waren, über die engagierte Teilnahme des Publikums an den Diskussionen hinterher und das große Interesse, auf das wir stießen. Kessler hat sich wieder einmal als hervorragender (Kultur-)Botschafter erwiesen.

Sabine Carbon