Harry Graf Kessler war der Mann, der alle kannte. Mit Isadora Duncan schlug er sich die Nacht in einer Bar in der Bülowstraße um die Ohren, Josephine Baker tanzte bei ihm zu Hause, Henry van de Velde entwarf seinen Schreibtisch, mit Hugo von Hofmannsthal überwarf er sich wegen des ´Rosenkavaliers´, mit Aristide Maillol reiste er nach Griechenland. Er kümmerte sich um den sterbenden Nietzsche und schrieb eine Biografie über Walther Rathenau. Für wen, wenn nicht ihn, den „Gesellschaftskünstler“ muss man eine Gesellschaft gründen? Sein Werk war immateriell, ein gesellschaftliches Netz, an dem er ständig knüpfte und in dem radikale linke Künstler genauso hängen blieben wie Außenminister, Prinzessinnen oder Coco Chanel. Er stellte Beziehungen her, entwarf großartige Projekte. Traumwandlerisch sicher bewegte er sich auf den unterschiedlichsten Parketts, zwischen hartem politischen Diskurs und gesellschaftlichem Geplänkel, bei unzähligen Frühstücken, Empfängen, Diners, Soireen. Die Gesellschaft als ein sich im 20. Jahrhundert diversifizierender Raum war das Material für sein Lebenswerk, dieses Netzwerk von Beziehungen, das er in seinen Tagebüchern zum großen Panorama seiner Zeit entwickelte. Die Tagebücher, 10.000 Seiten mit 40.000 Personen, die sie bevölkern, sollten nur Vorstufe sein, Steinbruch für die große Biographie, die noch kommen sollte, die im mallorquinischen Exil der 30er Jahre aber unvollendet blieb. Dabei sind gerade diese Tagebücher ein Schatz der genauen Beobachtungen, filigranen Beschreibungen und Reflexionen.